DIE ZEIT, 16.05.2007


Boulevards des Nichts

Es gibt viele Arten, Städte zu zerstören:
Durch Erdbeben und Wirbelstürme,
durch Bomben, Brände und Wasserfluten.
Oder durch Stadtautobahnen

TEXT BENEDIKT ERENZ    FOTOS MARTIN LUTHER


Wie vernichtet man eine Barockstadt? Gerade auf diesem Feld erreichte die DDR früh schon
Weltniveau, wie das Beispiel Halle zeigt. Rechts im Bild die Franckeschen Stiftungen

Wie haben die Menschen das damals nur ausgehalten! Diesen Lärm, diesen Dreck. Diesen Gestank. Diesen ganzen tagtäglichen Terror! Unbegreiflich erscheint uns das heute, wenn wir durchs Stadtmuseum gehen, Abteilung Mittelalter. Und ebenso wird es eines Tages den Menschen nach uns ergehen, wenn sie Fotos wie diese sehen, aus dem heutigen Mittelalter: Wie haben die Menschen das nur ausgehalten! Diesen Lärm, diesen Dreck. Diesen Gestank. Diesen ganzen tagtäglichen Terror! Unbegreiflich.



Vollendetes Abbild vollkommener Öde: Die Nord-Süd-Fahrt in Köln, die hier,
beim Hochbunker des WDR, aus unerfindlichen Gründen Tunisstraße heißt

Nichts gegen Straßen. Was gibt es Schöneres in einer Stadt?! Eine Allee, eine summende, fröhlich brausende Geschäftsstraße ... Ein Boulevard am Abend, wenn alles in die Kinos und Theater strömt und die Restaurants sich füllen... Ja, selbst so eine Bürostraße hat ihren Reiz, süße, kleine, dumme Welt der Angestellten ...



Freie Fahrt auch in Bremen. Schade nur, dass die gotische Martinikirche aus dem
13. Jahrhundert immer noch im Weg steht. Das schmerzt

Aber das hier? Diese sechs- bis achtspurigen Asphaltschneisen quer durch das Herz von Köln, Stuttgart, Halle, Hamburg? Dieser Lärm, dieser Dreck, dieser Gestank? Das war der Fortschritt anno 1949 oder 52. So sah es aus, das Nachkriegsglück. Die Städte waren zerstört und die Verkehrsplaner begeistert, die Verkehrtplaner. Endlich brauchten sie keine Rücksicht mehr zu nehmen. Jetzt wurde durchgesetzt und durchgeschlagen. Von Punkt A nach Punkt B. Mehr Baukunst war nicht vorgesehen, nicht einmal ein Bürgersteig, wozu auch?



Das Werk der Weltkriegsbomber vollenden - das war die Devise der Hamburger Verkehrsplaner
in den fünfziger und sechziger Jahren. Höhepunkt ihres Schaffens ist die Ost-West-Straße,
mitten durch die historische Alt- und Neustadt geschlagen

Doch die Zukunft von damals verbaut die Zukunft von heute. In Hamburg schneidet die Ost-West-Straße die neue Hafen- City von der Innenstadt ab, das Desaster ist abzusehen. In Halle wurden mit viel Geld die herrlichen Franckeschen Stiftungen grandios restauriert, nur leider liegen sie hinter einem monströsen Hochtodesstreifen aus Asphalt. Und wie gerne lustwandelte man durch den Park des Mannheimer Schlosses hinunter zum Rhein! Doch den Park gibt es nicht mehr, begraben liegt er unter einem grotesken Gewölle aus Beton.



Unterhalb des Mannheimer Schlosses lud einst der fürstliche Park zum Lustwandeln ein.
Dieser unerträgliche Zustand wurde beendet. Jetzt herrscht dort Verkehr

Die Bilder des Hamburger Fotografen Martin Luther, Jahrgang 1970, sind in ihrer exakten Komposition von freundlich besonnter Beiläuflgkeit. Umso unheimlicher ist ihre Wirkung. Samuel Beckett, der große Existenzialist, hat es gewusst.»Ne manquez pas a Stuttgart«, reimte er einst beim Anblick jener Straße, die in die beklemmendste Schneise der Stadt übergeht, »la longue Rue Neckar / du neantla l'attrait / nest plus ce qu'il etait / tant le soupyonest fort / d'yetre deja est d'ores.«- »Versäumen Sie in Stuttgart nicht, / sich die lange Neckarstraße anzusehen. / Der Anreiz des Nichts ist dort nicht mehr das, / was er einmal war, weil man eben / den sehr starken Verdacht hat, / längst mitten darin zu sein.«



Zu den Meisterstücken einer Stadtbaukunst, die das ganze Glück der Moderne atmet,
gehört diese kühne Furt in Stuttgart. Samuel Beckett soll sie sehr geliebt haben

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